Prof. Dr. med. Dietrich Tönnis

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Diagnostik und Behandlung der Hüftdysplasie – wo liegt das Optimum?

© Prof. Dr. med. Dietrich Tönnis

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Hüftdysplasie entsteht meist schon im Mutterleib durch Raummangel, Fruchtwassermangel und Steißlage, seltener genetisch. Der Hüftkopf wird dann gegen den Pfannenrand gedrückt. Er dehnt die Kapsel aus und verformt auf die Dauer auch den Pfannenrand.

Gleitet er über ihn und das Labrum hinweg, dann sprechen wir von Hüftluxation.



Das Merkmal der ausgeprägten Hüftdysplasie ist die Instabilität bei der Tastuntersuchung.

Wir unterscheiden verschiedene Grade von Verschieblichkeit, immer bei Beugung von 100-120°.

Instabilitätsgrade des Tastbefunds
1. Hüftkopf in der Pfanne verschieblich
2. Hüftkopf bis an den Rand verschieblich,
Schnappen bei Rückführung (Ortolani)
3. Aus- und Einrenk-Phänomen
4. Nicht mehr einrenkbar

Zur Diagnostik gehört auch das Fragen nach Risikofaktoren.

Risikofaktoren
Familienanamnese
Beckenendlage
Abspreizbehinderung


Im Ultraschallbild grenzen wir die Hüfttypen nach Graf ab. Unter mehr als 5000 Gelenken von Neugeborenen unserer Frauenklinik fand Storch 2,64 % pathologische Gelenke von Typ 2c bis Typ 4. Addiert man dazu noch die Verschlechterungen von 2a Hüften, so erfassten wir 6,5 % pathologische Gelenke. Auch Grill fand 6,57% für ganz Österreich.

Häufigkeit von Hüfttypen nach Graf bei Neugeborenen (n=5174)
Hüfttyp % Summe
2a verschlechtert
(bei Nachuntersuchung)
3,9 3,9 
2c 1,2  
2d 0,9 2,1 
3a 0,5  
4 0,04 0,54 
6,54 %

Die Tastuntersuchung war bei den Neugeborenen aber nur bei Typ 4 zu 100% positiv, der Typ 3a wurde in 18,5% nicht, der Typ d in 57% nicht und 2c in 66% der Unersuchungen nicht getastet. Die Sonographie erfaßt also die reinen Dysplasien sehr viel häufiger. Das ist keine Überdiagnostik.

Tastuntersuchungsergebnis
Hüfttyp Ergebnis
4 Positiv in 100 %
3a Positiv in 18,5 %
d Positiv in 57 %
2c Posistiv in 66 %


Bei den Typen 2a, 2b, 2c und d führen Beugespreizschienen wie die Tübinger Schiene und, die von Gekeler am schnellsten zur Stabilität und Pfannennachreifung. Die Pavlik-Bandage (hier nicht gezeigt) langsamer, weil sie nicht dauerhaft abspreizt.

Bei den Typen 3a und b sowie 4 erzielt eine Fixation in Hocksitzstellung nach Fettweis sicherer und schneller die Ausheilung.



Voraussetzung ist aber, dass der Pfanneneingang nicht so verengt ist, wie wir das hier zwischen vorgezogenem unterem Labrum und wulstig verformtem seitlichen Pfannenerker sehen.

Bei noch nicht vorhandener oder verzögerter Kopfkernentwicklung würde es sonst zur Hüftkopfnekrose kommen, wie Sie es hier sehen.



Hier sehern Sie dies in der Statistik. Bei entwickeltem Kopfkern traten nur in 0,9% Nekrosen auf, bei Fehlen oder verzögerter Entwicklung von 4.5 bis zu 12.5%.

Nekroserate in Abhängigkeit von der Entwicklung des Kopfkerns
Entwicklung Kopfkern Nekrose (%) Gelenke
Normal 0,9 109
Fehlend 4,5 110
Klein 8,7 85
Verzögert 12,5 16

Hinzu kam aber, dass die Rate der Kopfnekrosen bis auf 25% stieg, je weiter der Hüftkopf in Beugespreizstellung vom Pfannenboden entfernt stand und sich vorarbeiten mußte.

Nekroserate in Abhängigkeit vom Abstand Hüftkopf - Pfannenboden
Abstand (mm) Nekrose (%) Gelenke
0 -2 2,7 150
3 -5 4,1 123
6 -11 25 16


Ist der Hüftkopf im Tastbefund nicht in die Pfanne einstellbar, dann sollte in Narkose eine Arthrographie von kaudal in Beugespreizstellung erfolgen. Man setzt den Daumen auf den Sitzbeinhöcker und sticht dicht neben ihm ein und schiebt die Nadel unter Durchleuchtung horizontal nach kranial bis sie an das Pfannendach stößt.

Lässt sich der Hüftkopf nicht voll reponieren, empfiehlt sich eine Extension in Längsrichtung bei nur leichter Beugung und Abspreizung, denn damit ziehen wir das hochgezogene untere Labrum herab und den Hüftkopf tiefer vor den Pfanneneingang. Gelingt dann die Einstellung im Laufe von 2- 3 Wochen nicht, ist die operative Einstellung angezeigt.



Neugeborene kann man allerdings nicht extendieren. Wir haben sie verschiedentlich ohne jegliche Orthesen nach Hause geschickt. 2 Monate später ließen sie sich dann doch öfter noch konservativ einstellen. Wir wählten also das hier dargestellte Schema des Vorgehens. Es ist der Weg, Hüftkopfnekrosen ganz weitgehend zu vermeiden.



Die Arthrografie zeigt uns eindeutiger als die Sonografie, ob ein Pfanneneingang verengt ist oder nicht. Hier sehen wir, dass bei einer 3 b Hüfte das Lig. capitis und untere Labrum den Zutritt zum Azetabulum sperren.

Der Typ 3 b hat auch die höchste Nekroserate von 12.5 %, während Typ 4 nur 5 % hatte. In unserem früheren Arbeitskreis für Hüftdysplasie führten wir auch Untersuchungen zur Wirksamkeit verschiedener Orthesen und Behandlungsverfahren durch.




Hier sehen wir, wie zielstrebig sich der α-Winkel ab dem 1. Lebensmonat unter Spreizhosenbehandlung bei Dysplasien selbst bei einem α-Winkel von 40° entwickelt. Zwischen knapp 3 und 4 1/2 Monaten wird der Normmittelwert von 65° erreicht.

Bei der Behandlung der Hüftluxationen im Hocksitzgips zeigte der α-Winkel im ersten halben Lebensjahr einen steilen Anstieg auf 65°. Wir entschieden nach der Stabilität im Tastbefund und dem α-Winkel, wann auf Spreizschienen überzugehen war, meist bei 65°, hier an den Knickpunkten der Kurve.
Die altersgemäße Nachreifung wurde dann noch abgewartet bis zu einem normalen Röntgenbefund bei Älteren, wobei der a- Winkel dann 72-73° betrug. Hier dürfte sicher keine Restdysplasie mehr auftreten.



Anders sieht es wohl aus, wenn der Fettweis-Gips nur für einen Monat angelegt wird und schon zwischen α-Winkeln von 46 bis 53° auf Spreizschienen übergegangen wird und bei 60° die Therapie auch bei Typ 3 und 4 beendet wird. Die nachholende Entwicklung der deformierten Pfanne braucht sicherlich mehr Zeit.

Das sehen wir auch hier bei den älteren Luxationen vor Einführung der Sonographie. Der AC- Winkel besserte sich im Gipsverband von nahe an 40° im Laufe von 6 Monaten auf den Normwert von 25°, sogar auch noch im 2. Lebensjahr. Heute könnte man die Zeit natürlich durch eine Azetabuloplastik verkürzen.



Die Behandlungsergebnisse untersuchten wir auch in Prozentsätzen der Normwerte und von uns eingeführter, zunehmend pathologischer Abweichgrade des α- und des AC-Winkels. Hier muss auf das Buch "Hüftreifungsstörungen" von Konermann et al. verwiesen werden.



Für die operative Hüfteinstellung sind wir nach dem lateralen und dem medialen Zugang auf einen vorderen Zugang in der Leistenfalte gekommen (2), ...

... wobei wir zunächst den Hüftkopf seitlich des M. iliopsoas freipräparieren und dann ...


... über den Muskel nach medial hinweg gehen und aus seiner Hülle dann von ventral oben in die Pfanne vorstossen. Hier können wir das Lig. transversum im Hinblick auf die Gefäße darunter vorsichtiger durchtrennen und die Reposition auch gut kontrollieren, ...



... eine Kapselraffnaht anlegen und gleichzeitig auch eine Azetabuloplastik vornehmen, wenn das Kind schon das zweite Lebensjahr oder mehrere erreicht hat.



Bei hochstehenden Luxationen ist immer eine Verkürzungsosteotomie im subtrochantären Bereich vorzunehmen. Damit lassen sich Hüftkopfnekrosen durch erhöhten Druck vermeiden. Varisierungen und Detorsionen haben sich bei gleichzeitigen Azetabuloplastiken als nachteilig erwiesen und steigern auch die Nekroserate.

Von unseren Kindern bis zu 4 Jahren konnten 83% (n = 87), insgesamt 118 Hüftgelenke (31 beidseitig), nach 10 - 21 Jahren (Mittelwert 15 Jahre.) nachuntersucht und die Ergebnisse gemeinsam mit Cordier et al. im Journal of Pediatric Orthopaedics, part B jetzt veröffentlicht werden.



Der CE Winkel überschritt 25° in 78% und der vordere Überdachungswinkel VCA in 83%. Restdysplasien mit CE-Winkeln unter 20° wurden nur in 8% und für den VCA Winkel in 13% festgestellt.

Röntgenologische Ergebnisse
CE-Winkel > 25° in 78 %
VCA-Winkel > 25° in 83 %
Restdysplasie CE < 20° in 8 %
Restdysplasie VCA < 20° in 13 %

Postoperative Hüftkopfnekrosen wurden für Grad 1 in 5,9 % und für Grad 2 in 1,7 % gefunden, also in sehr geringem Grade.

Hüftkopfnekrosen postoperativ (Hirohashi)
Grad 1 5,9 %
Grad 2 1,7 %


Ausschließlich operative Einstellungen wurden vorwiegend im 1. Lebensjahr durchgeführt, wobei keine Restdysplasien verblieben und nur Nekrosen des Grades 1 (5,9 %). Im 2. Lebensjahr und später mussten Zusatzeingriffe, vor allem Azetabuloplastiken, vorgenommen werden und fehlten noch bei 8 % Restdysplasien. Diese langfristige Statistik aus frühen Jahren darf als sehr befriedigend angesehen werden. Nach Verkürzungsosteotomien traten auch keine Kopfnekrosen auf.



Für die Indikation von Pfannendacheingriffen sollten im Zweifelsfall unsere Normwerte und Abweichgrade herangezogen werden.

Normalwerte des AC-Winkels und Abweichgrade
Alter
(Jahre/Monate)
Grad 1
(normal)
Grad 2
(leicht patholog.)
Grad 3
(stark patholog.)
Grad 4
(extrem patholog.)
0/3 + 0/4
< 30
≥ 30 - < 35
≥ 35 - < 40
≥ 40
0/5 - 2/0
< 25
≥ 25 - < 30
≥ 30 - < 35
≥ 35
2 - 3
< 23
≥ 23 - < 28
≥ 28 - < 33
≥ 33
3 - 7
< 20
≥ 20 - < 25
≥ 25 - < 30
≥ 30
7 - 14
< 15
≥ 15 - < 20
≥ 20 - < 25
≥ 25


Von den verschiedenen Pfannendachosteotomien nach Lance, Salter, Pemberton halten wir die durchgehende Iliumosteotomie über dem Pfannendach von lateral für das am besten zu handhabende und erfolgreichste Verfahren. Wiberg beschrieb es 1953 als erster, nicht Dega.

Das Pfannendach wird unter Bildwandlerkontrolle eingemeißelt, 6-7 mm oberhalb des Gelenkes von lateral her und nach unserer Modifikation bis kurz vor den hintersten Abschnitt der y-Fuge.



Ventral lässt sich das offen verfolgen, dorsal tastet man mit dem Finger das leichte Vorragen des Meißels in die Incisura ischiadica major.



In dem verbleibenden kleinen Knochensteg lässt sich das Pfannendach bis zu 50° im Extremfall herabbiegen. Das ist bei der Osteotomie nach Salter nicht möglich. Hier im Bild sichert ein Keil aus der Knochenbank medial und aus der Verkürzungsosteotomie lateral die neue Stellung.

Varisierung- sosteotomien und Detorsionen, wie sie früher üblich waren, sind nur in seltenen Extremfällen nötig, sonst nur von Nachteil. Frühere Nachunter-suchungen und eine neuere von Baumann zu Azetabuloplastiken ohne Zusatzeingriffe haben das bewiesen. Bei den "Pfannendachplastiken" wird aber näher darauf eingegangen.



Später bleibt uns nur die Rotation der ganzen Hüftpfanne, um eine starke Hüftdysplasie zu beseitigen. Eine Varisierungs-osteotomie des Femurs normalisiert die pathologische Pfannendachstellung nicht.

Wir wählten unter verschiedenen Verfahren eine Dreifach-Osteotomie, bei der das Pfannenfragment durch eine schräge Osteotomie des Sitzbeins unabhängig gemacht wird von den zwei Bändern zwischen Sitzbein und Kreuzbein. Das ermöglicht eine beliebig starke Rotation der Pfanne auch bei schwersten Dysplasien. Anderenfalls hindern diese Bänder.



Wichtig ist, dass die Pfanne nicht nur seitlich und vorn herabgezogen wird, sondern dass sie wirklich rotiert wird. Das seitliche Schambeinende muss über das mediale hoch rotiert und dann medialisiert werden. Eine Osteosynthese, heute mit Schrauben, gibt Halt.

Zur Rotation nach vorn muss die Pfanne an der Schanzschen Schraube dorsal hochgedrückt werden, sonst verlagern wir sie nach vorn und die Iliumosteotomie klafft stärker. Das führt zu Pseudoathrosen.



Bei der Betrachtung von Röntgenbildern meinen viele Kollegen, wenn sie den vorderen Pfannenrand tiefer stehen sehen, sie hätten genügend nach vorn rotiert. Das ist oft ein Irrtum, da wir mit der Vordrehung die Anteversion der Pfanne verringern. Die Pfanne muss deshalb gleichzeitig 15-20° innengedreht werden, sonst wird auch die Innenrotation des Hüftgelenks eingeschränkt.



Die Rotation nach vorn ist nur in der Seitaufnahme nach Lequesne u. de Seze ersichtlich.

Ziel der Operation muss die Horizontalstellung der Belastungs-zone sein. Das können wir heute fast immer erreichen. Einschränkend in der Schmerz-befreiung sind nur eine schon ausgeprägte stärkere Arthrose und eine Hüftkopfentrundung und Inkongruenz.



Die Überlebenskurve einer 10-Jahres-Nachuntersuchung von Küpper an 77 Gelenken zeigt, dass 30 Gelenke völlig schmerzfrei waren und 39 Gelenke gelegentlichen und leichten Schmerz aufwiesen. Bei den 8 Patienten mit stärkerem Schmerz rührte dieser von den Bandscheiben und Iliosakralgelenken her.



1988 war uns allerdings noch nicht bekannt, dass die verringerte Pfannenanteversion und Schenkehalsantetorsion, wenn sie gegen 0° gehen, häufige Ursachen von Schmerz und später Hüftarthrose sind. Erst in den 90iger Jahren wertete ich die CTs von 356 überwiegend schmerzhaften Hüftgelenken aus.

Dabei zeigten Patienten mit Hüftdysplasie eine Femurtorsion nahe 0° in fast 60 % und in fast 30 % auch eine Pfannenanteversion nahe 0°. Das traf ähnlich häufig auch auf tiefe Pfannen zu und in 77 % auch auf Fälle von Epiphysiolysis und Coxa vara.

Diese dritte Ebene muss heute bei der Untersuchung von Hüftarthrosen berücksichtigt werden, denn Torsionsanomalien sind neben der Hüftdysplasie die Hauptursache von Impingement und Labrumläsionen. Die Herstellung des normalen Torsionswinkels von 15-20° beseitigt die Beschwerden. Dabei ist die Femurantetorsion noch ausschlaggebender als die Pfannenanteversion.


Die hier gezeigten diagnostischen und therapeutischen Wege stellen nach unserer langjährigen Suche das Optimum dar. Ich hoffe, dass auch andere Kollegen aus dieser Darstellung Nutzen für ihre Arbeit ziehen können.


 

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